Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Aus gegebenem Anlass: ein Blick in Magnus Hirschfelds Doktorarbeit

Zum 14. Mai 2020
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Widmungsexemplar der Dissertation Magnus Hirschfelds für seine Schwester Franziska Mann (Archiv der Magnus-HIrschfeld-Gesellschaft)

Die erste wissenschaftliche Veröffentlichung Magnus Hirschfelds war seine medizinische Doktorarbeit, 1892 an der Berliner Universität vorgelegt und verteidigt: “Ueber Erkrankungen des Nervensystems im Gefolge der Influenza.” In den Jahren 1889/90 und erneut im Winter 1891, während Hirschfeld an dieser Doktorarbeit saß, gab es eine Influenza-Pandemie, deren Beschreibung auf den ersten Seiten der Dissertation sich überaus aktuell liest.

Einige ausgewählte Zitate:

“Wie der Landmann den Schaden, welchen das anfangs unterschätzte Unwetter angerichtet hat, erst nach dem Sturm erkennt und übersieht, so konnte die Medicin die volle verheerende Wirkung, welche die bei ihrem Auftauchen für harmlos, ja für lächerlich leicht angesehene Krankheit unter dem Menschengeschlecht angestiftet hat, erst nach dem Verschwinden der Influenza in ganzer Grösse überblicken. Es bestätigte sich auch neuerdings die alte Erfahrung, der viele frühere Influenzaschriftsteller Erwähnung thun: der Nichtachtung vor der in ihrem Beginne stets leicht auftretenden Affection folgte der Respect, der Sorglosigkeit die Furcht; […] ganz verhängnisvoll und insidiös wirkt sie jedoch bei Individuen, welche schon vor der Invasion der krankmachenden Influenzastoffe durch krankhafte Veranlagung und geschwächte Constitution belastet waren […) und bringt durch Alter Geschwächte zur schnelleren Auflösung, sodass sie mit Recht eine Mörderin der Greise genannt zu werden verdient.”

Mit Bezug auf die Folge-Epidemie im Winter 1891/92 – die grassierte, als Hirschfeld seine Doktorarbeit verfasste – schreibt er:

“Es ist anzunehmen […] dass die mittlere Dauer der Influenza an grösseren Plätzen etwa 6 – 8 Wochen beträgt, dass die im Augenblick noch grassierende Krankheit, wenn diese Abhandlung erschienen ist, ganz erloschen sein wird. […] Mitte Januar dieses Jahres war die Influenza in sämmtlichen Ländern Europas […] verbreitet […] Da Spanien, Aegypten und die Türkei erst neuerdings von der Krankheit befallen sind, so erfolgte auch diesmal wie gewöhnlich die weitere Ausbreitung in der Richtung nach Süden. In ganz besonders hohem Grade sind England und Italien heimgesucht.”

Er zitiert dann einen Bericht aus London vom 23. Januar 1892:

“London gleicht jetzt einem grossen Krankenhause […] Die Sterblichkeit ist hier auf das Doppelte gestiegen, wie in normalen Zeiten […] Die Seuche greift äusserst störend in den Familienkreis, in das Geschäftsleben und den öffentlichen Verkehr ein. In den Gerichtshöfen mangelt es an Richtern, über ein Viertel der Polizeimannschaft hütet das Bett anstatt die Strassen, der Post- und Eisenbahndienst kämpft mit Schwierigkeiten, da der grösste Theil des Personals dienstunfähig ist. In den Hospitälern fehlt es an Krankenwärtern, die jetzt selbst der Wartung bedürftig geworden sind und es fällt sehr schwer, ärztliche Hülfe zu erlangen, da der grössere Theil der Aerzte krank und die übrigen zu sehr in Anspruch genommen sind. Eine wahre Influenzapanik hat sich in den weitesten Kreisen der Bevölkerung Bahn gebrochen, ungezählte Arbeitskräfte liegen brach, was sich in allen Werkstätten, Grossunternehmungen und Comptoirs empfindlich bemerkbar macht.”

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Die drei Opponenten der Disputation:

Leopold Hirschberg, geboren 1867 in Posen, wurde 1891 in Königsberg mit einer Arbeit über “Eine Frucht mit angeborenem Hydrocephalus und Missbildungen des Gesichts und äussern Ohres” promoviert, erhielt im gleichen Jahr seine Approbation und praktizierte als Arzt in Berlin-Tiergarten, Calvinstr. 2. Bekannt wurde er als Musikwissenschaftler, Literaturhistoriker und bibliophiler Sammler; seine Bibliothek verkaufte er 1913 an die Berliner Universität. Er starb 1929 in Berlin. Mehr über ihn bei Horodisch, Abraham, ‘Hirschberg, Leopold’ in: Neue Deutsche Biographie 9 (1972), S. 221 f. [Online-Version]

Paul Caspari wurde 1867 in Brüssow in der Uckermark geboren und studierte seit Ostern 1890 in Berlin Medizin. Er legte seine Dissertation über „Die Behinderung der Respiration durch die Nase“ im gleichen Jahr wie Hirschfeld vor. Er praktizierte als Arzt in Berlin (lt. Adressbuch 1910 in NO, Neue Königstraße 20, später viele Jahre in der Metzer Str. 41 in Prenzlauer Berg); erhielt 1918 noch den Titel eines Sanitätsrats und starb im Dezember 1937. Aus den Erinnerungen seiner Tochter

Art(h)ur Pappenheim, geboren 1870 in Berlin, studierte hier seit dem Herbst 1889 Medizin. Seine Dissertation „Die Bildung der roten Blutscheiben“ wurde 1895 veröffentlicht. 1912 wurde er zum Professor an der 2. Medizinischen Klinik der Charité ernannt. Von ihm erschienen zahlreiche Publikationen zur Hämatologie. Er starb 1916 an den Folgen einer Fleckfieberinfektion. Über ihn vgl. Wormer, Eberhard J., “Pappenheim, Artur” in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 52 f. [Online-Version]

Doktorvater war Prof. Dr. med. Emanuel Mendel (1839-1907). Er lehrte ab 1884 als ao. Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin Psychiatrie und Neurologie sowie forensische Psychiatrie und war Direktor der Nervenklinik. 1877-1881 war er für die Fortschrifttspartei Mitglied des Deutschen Reichstags. Mehr Details