Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Charlotte Wolff, Ärztin, Psychiaterin

geb. 30.9.1897 (Riesenburg, heute Prabuty, Polen) gest. 12.9.1986 (London, GB)

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Charlotte Wolff (Foto: Anke-Rixa Hansen / Schwules Museum Berlin).
Charlotte Wolff wurde am 30. September 1897 als zweite und jüngste Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie im westpreußischen Riesenburg (heute Prabuty, Polen) geboren, wo sie auch aufwuchs. Nach dem Besuch der Höheren Töchterschule in Danzig (Gdańsk) ging sie nach Freiburg im Breisgau, um an der dortigen Universität ein Doppelstudium zu beginnen. Sie belegte Kurse und Veranstaltungen in Medizin, Psychologie und Philosophie. Nach kürzeren Studienaufenthalten in Königsberg (Kaliningrad) und Tübingen setzte sie ihr Studium in Berlin fort und beendete es hier 1928 mit einer medizinischen Dissertation.

Schon in ihrer Jugend hatte sich Charlotte Wolff stets in Mädchen und Frauen verliebt. Sie verweigerte sich früh dem klassischen Frauenbild ihrer Zeit und kleidete sich bevorzugt wie ein Mann. Bezeichnungen wie „lesbisch“, „hetero-“ und „homosexuell“ erkannte sie zeit ihres Lebens nicht an und identifizierte sich mit keiner von ihnen. Ihre Eltern scheinen ihre erotischen Gefühle für ihre Mitschülerinnen und Lehrerinnen gekannt und akzeptiert zu haben. Gleichwohl litt Charlotte Wolff schon früh und wiederholt unter depressiven Verstimmungen. Ende der 1920er Jahre entwickelte sie zudem eine massive Angststörung.

In Berlin pflegte Charlotte Wolff freundschaftlichen Umgang mit dem Ehepaar Dora und Walter Benjamin, und zu ihren engsten Freunden gehörte auch das Ehepaar Helen und Franz Hessel. Magnus Hirschfeld und sein Institut für Sexualwissenschaft nahm sie in dieser Zeit allenfalls indirekt zur Kenntnis. 50 Jahre später schrieb sie, Hirschfelds Bedeutung als Pionier der Sexualwissenschaft werde zwar sehr hoch eingeschätzt, doch sein Ruf ging ihr nicht weit genug. In ihrer Autobiografie Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit fragte Wolff 1982: „War es sein [Hirschfelds] Einfluß, der das Deutschland der 20er Jahre zum ersten europäischen Land werden ließ, in dem sexuelle Freiheit proklamiert und praktiziert wurde, oder machte die Weimarer Republik einen Sexualwissenschaftler wie Magnus Hirschfeld erst möglich?“ Durch ihre Hirschfeld-Biografie, die 1986 auf Englisch erschien, trug sie maßgeblich zu einer „Hirschfeld-Renaissance“ bei.

Nach dem Abschluss ihres praktischen Jahres als Ärztin am Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin-Wedding wechselte sie an eine Klinik für Familienplanung, Schwangerenfürsorge und Schwangerschaftsverhütung. Die dortige Position musste sie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung allerdings bald aufgeben. Sie war vorübergehend Direktorin am Institut für elektro-physikalische Therapie in Neukölln, wurde jedoch im Februar 1933 von der Gestapo verhaftet, weil sie wegen des Tragens von Männerkleidung im Verdacht der Spionage stand. Nach einer Hausdurchsuchung bei ihr emigrierte Charlotte Wolff im Mai 1933 nach Frankreich.

Nachdem sie sich schon in Berlin intensiv mit der Handlesekunst, der Chirologie, beschäftigt hatte, musste und konnte sie sich in Frankreich ihren Lebensunterhalt als Chirologin verdienen. Als Ärztin durfte sie nach ihrer Flucht nach Paris nicht arbeiten. Sie lernte Aldous und Maria Huxley, Antoine Saint-Exupéry, Man Ray und Pablo Picasso kennen und pflegte teilweise einen engen Kontakt mit ihnen. 1936 flüchtete Charlotte Wolff auf Veranlassung des Ehepaars Huxley nach London, wo sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene psychiatrische Praxis eröffnete. 1939 legte sie die deutsche Staatsangehörigkeit ab und galt für etliche Jahre als „staatenlos“, erst 1947 nahm sie die britische Staatsangehörigkeit an. In der Folge bezeichnete sie sich gern als „internationale Jüdin mit einem britischen Pass“.

Schon mit ihren Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Chirologie erlangte Charlotte Wolff große Aufmerksamkeit. So schuf sie mit The human hand (1942) ein Grundlagenwerk der Handlesekunst, wobei sie in dem Buch allerdings auch behindertenfeindliche und rassistische Thesen vertrat. Auch in ihrer Autobiografie Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit (1982) irritiert der wiederholte und unhinterfragte Gebrauch des Wortes „Rasse“, den Wolff wahlweise für „die Deutschen“, „die Juden“ und andere gebrauchte. Als sie einmal die Handabdrücke eines Gorillas mit denen eines geistig behinderten Mannes verglich, kam sie zu dem Schluss, der Mann sei dem Gorilla „geistig unterlegen“. Vorgeworfen wurde Wolff später auch eine unkritische Darstellung des Eugenik-Konzepts, dem Magnus Hirschfeld anhing, wie sie sie in ihrer Hirschfeld-Biografie von 1986 vorlegte.

Ab Anfang der 1960er Jahre publizierte Charlotte Wolff intensiv zum Thema „Lesbianismus“. Sie führte empirische Studien durch, mit denen sie auch auf dem Gebiet der menschlichen Sexualität Aufmerksamkeit und Anerkennung erhielt. Ihr Buch Love between Women (1971) fußte auf über 100 Interviews mit lesbischen Frauen, für eine Studie zur Bisexualität (1977) befragte sie insgesamt 150 Männer und Frauen. Charlotte Wolff schuf in diesem Zusammenhang den Begriff der „Homoemotionalität“, um zum Ausdruck zu bringen, dass Zuneigung und Attraktivität sich nicht nur auf dem Gebiet der Sexualität bemerkbar machen.

Ab 1978 besuchte Charlotte Wolff Berlin mehrfach, wobei hierfür die Kontakte zu Frauen um Ilse Kokula, Gertrude Sandmann, den West-Berliner Frauenbuchladen Labrys (Hohenstaufenstraße 64) und die „lesbische Zeitschrift“ UkZ (Unsere kleine Zeitschrift), die als Sprachrohr der Gruppe L74 erschien, ausschlaggebend waren. Die Frauen, die sich in der Gruppe L74 engagierten, interessierten sich für die Lebenswirklichkeit lesbischer Frauen im Berlin der 1920er Jahre und gaben für Charlotte Wolff als selbstbewusste, kämpferische und suchende Feministinnen ihrem Herkunftsland Deutschland ein anderes Gesicht. Für Wolff schloss sich damit ein Kreis. Ihre Autobiografie Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit beendete sie 1982 mit den Worten: „Berlin war wieder ein Ort auf meiner emotionalen Landkarte geworden. Es hatte mir ein neues Leben gegeben.“

Charlotte Wolff starb am 12. September 1986 in London. Ihre Biografie über Magnus Hirschfeld hatte sie kurz zuvor abgeschlossen.

Schriften (Auswahl)

Wolff, Charlotte (1928): Die Fürsorge für die Familie im Rahmen der Schwangerenberatung der Ambulatorien des Verbandes der Berliner Krankenkassen. Medizinische Dissertation. Charlottenburg.

Wolff, Charlotte (1942): The human hand. London: Methuen.

Wolff, Charlotte (1970): Die Hand des Menschen. Weilheim: O. W. Barth.

Wolff, Charlotte (1971): Love between women. London: Duckworth.

Wolff, Charlotte (1973): Psychologie der lesbischen Liebe. Eine empirische Studie der weiblichen Homosexualität (rororo-Sexologie, 8040). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Wolff, Charlotte (1979): Bisexuality. A study. Revised and expanded edition. London: Quartet Books.

Wolff, Charlotte (1979): Bisexualität. Frankfurt am Main: Goverts.

Wolff, Charlotte (1980): Hindsight. An Autobiography. London: Quartet Books.

Wolff, Charlotte (1982): Augenblicke verändern uns mehr als die Zeit. Autobiographie. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.

Wolff, Charlotte (1986): Magnus Hirschfeld. A portrait of a pioneer in sexology. London: Quartet Books.

Gedenken

Seit 2016 erinnert eine Berliner Gedenktafel am Haus Laubenheimer Straße 10 in Charlottenburg/Wilmersdorf an Charlotte Wolff. In Freiburg/Breisgau gibt es seit 2019 einen Charlotte-Wolff-Weg und in Bremen eine Charlotte-Wolff-Allee.

Weiterführende Literatur und Quellen

Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin (2015): Charlotte Wolff, auf: Ärztinnen im Kaiserreich.

Janz, Ulrike (1991): (K)eine von uns? Vom schwierigen Umgang mit ‚zwiespältigen Ahninnen’, auf: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane.

Kröner, Sabine (2010): Charlotte Wolff (1897–1986) – “Love between Women”, auf: Online-Projekt Lesbengeschichte. Boxhammer, Ingeborg/Leidinger, Christiane.

Rappold, Claudia (2005): Charlotte Wolff. Ärztin, Psychotherapeutin, Wissenschaftlerin und Schriftstellerin (Jüdische Miniaturen, 34). Teetz/Berlin: Hentrich und Hentrich.

Rieger, Eva und Christiane von Lengerke (o.J.): Charlotte Wolff, auf: FemBio Frauen.Biographieforschung.