Marcel Thellier, = Félix Tellier, franz. Konsul
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Über die wahre Identität „Marcel Thelliers“ herrschte lange Unklarheit. Aufgrund einer Notiz in den Monatsberichten des Wissenschaftlich-humanitären Komitees vom November 1907 wurde der Name immer als Pseudonym gelesen, und da der französische Schriftsteller Achille Essebac (eigentlich Achille Bécasse, 1868–1936) ihn in seinem autobiografisch gefärbten Erfolgsroman Dédé (1901) verwendete, ist angenommen worden, hinter „Marcel Thellier“ könne sich eben Achille Essebac verborgen haben. Essebacs Dédé war Anfang des 20. Jahrhunderts ein ausgesprochen erfolgreiches Werk, das die Liebe zwischen Marcel Thellier und André Dalio (genannt Dédé) thematisiert. Noch 1931 gab es in Berlin eine „Nachtbar des Herrn“, die den Namen „Dédé“ trug. Sie lag an der Ecke Bülow- und Frobenstraße (Berlin-Schöneberg).
Neuere Forschungen (2023) im russischen Sprachraum haben indes etwas Licht in das Dunkel gebracht. Demnach war zwar „Marcel Thellier“ in der Tat ein Pseudonym, es war aber der französische Vizekonsul in St. Petersburg (François Louis) Félix Tellier-Mattei, der sich seines bediente. Félix Tellier wurde am 8. Oktober 1880 in Buenos Aires (Argentinien) geboren. Über seine Lebensumstände ist heute aber nur wenig bekannt. Tellier war offenbar Absolvent der Universität in Paris und wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. 1907 wurde er in St. Petersburg von einem russischen Schriftsteller namens Wladimir Botzianowsky „geoutet“, indem er öffentlich als „leidenschaftlicher“ Bewunderer und Verteidiger des homosexuellen russischen Dichters und Komponisten Michail Kusmin (1872–1936) dargestellt wurde.
Welche Bedeutung dieses „Outing“ für Félix Tellier hatte, lässt sich bislang nicht entscheiden. Wenige Monate nach der Veröffentlichung des Feuilletons von Wladimir Botzianowsky verließ Tellier vorübergehend Russland, um indes bereits 1909 dorthin zurückzukehren. Seine diplomatische Karriere wurde durch den Vorfall nicht beeinträchtigt. Am 24. September 1921 wurde Tellier als französischer Konsul in Trinidad bestätigt, und Anfang 1925 wechselte er von Trinidad nach Mexiko-Stadt, wo er wohl mit der Beschaffung französischer Mandatsunterlagen für Schriftsteller und Intellektuelle aus dem osmanisch beherrschten Libanon, Syrien und Palästina betraut war, die als „Mahjar“ von sich reden machten. Als französischer Konsul in Mexiko-Stadt wurde Tellier am 8. Juli 1925 zugelassen.
Das letzte heute bekannte Lebenszeichen Félix Telliers stammt aus dem Jahr 1929. Laut einer Kurzmeldung in der London Gazette wurde er im April 1929 zum französischen Konsul in St. John‘s in Newfoundland (Kanada) ernannt.
Als Obmann im Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) wurde „Marcel Thellier“ 1920 genannt.
Weiterführende Literatur
Féray, Jean-Claude (2008): Achille Essebac und sein Roman Dédé (Nachwort), in: Essebac, Achille: Dédé (Bibliothek rosa Winkel, 47). Hamburg: Männerschwarm Verlag, S. 239-256.
Sokolinsky, Lev (2023): Die leuchtenden Schwulen des Kaiserreichs. Outing für das Allgemeinwohl (auf Russisch).
Monatsbericht des Wissenschaftlich-humanitären Komitees vom 1.11.1907 (Jg. 6, Nr. 11), S. 217-218.
Diario Oficial. Secretaría de Gobernación. Organo del Gobierno Constitucional de los Estados Unidos Mexicanos (Jg. 31, Nr. 31) vom 5.8.1925, S. 738.
Compagnie minière Santiago y anexas (1928): Inauguration de l’usine de traitement de Huautla, état de Morelos. Discours de M.M. Ch. Berrogain, A. Puente, J. Reynoso, F. Tellier Mattei, P. Roustan et de la Parra. Mexico: editorial Cultura.
Notiz in der London Gazette vom 26.7.1929, S. 4922.