Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Hildegart Rodríguez, Autorin, Sexualreformerin

geb. 9.12.1914 (Madrid, Spanien) gest. 9.6.1933 (Madrid, Spanien)

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Hildegart Rodríguez, um 1933. Unbekannter Fotograf, gemeinfrei.
Hildegart Rodríguez wurde am 9. Dezember 1914 unehelich in Madrid geboren und wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter Aurora Rodríguez Carballeira (1879–1955) auf. Über ihren Vater liegen keine gesicherten Angaben vor. Hildegart Rodríguez war trotz oder wegen ihres jungen Alters eine gefragte Rednerin auf sozialistischen Propaganda- und Parteiveranstaltungen und das einzige namhafte weibliche Mitglied der bürgerlichen spanischen Sexualreformbewegung. Radikal wie kaum eine andere äußerte sie sich zu den Themen Gleichberechtigung und freie Liebe, Abtreibung und Verhütung. In der spanischen Öffentlichkeit war sie als „señorita Hildegart” oder schlicht „Hildegart” bekannt.

Bereits im Alter von elf Jahren schrieb Hildegart Rodríguez ihre ersten Aufsätze für die Zeitschrift Sexualidad und hielt öffentliche Reden. Wenige Jahre später sorgte sie mit Artikeln in der Zeitung El Socialista für Aufsehen. Im Alter von vierzehn Jahren wurde sie zur Sprecherin, später zur Vizesekretärin der Weltliga für Sexualreform (WLSR) gewählt. Für die Zeitschrift Sexus der WLSR verfasste sie eigene Beiträge, übersetzte fremdsprachige Artikel ins Spanische und interviewte zentrale internationale Sexualreformer wie Magnus Hirschfeld und Norman Haire (1892–1952).

Als Hildegart Rodríguez im Alter von siebzehn Jahren ihr erstes Studium beendete, war sie nicht nur eine der wenigen weiblichen Akademikerinnen Spaniens, sondern gleichzeitig auch die jüngste Juristin des Landes. Da sie aufgrund ihres Alters noch nicht als Anwältin praktizieren durfte, schrieb sie sich anschließend für ein Medizinstudium ein.

Hildegart Rodríguez veröffentlichte sechzehn Bücher und über 150 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, in denen sie sich mit der Sexualreform und dem Sozialismus auseinandersetzte. Ihre Schriften richteten sich an ein breites Publikum, an Fachleute wie an einfache Arbeiterinnern und Arbeiter, und sie wurden zum Teil bis in die 1980er Jahre hinein wieder aufgelegt. Die Publikationen basierten indes nicht auf eigenen Studien, sondern waren größtenteils Kopien von Arbeiten zeitgenössischer Sexualwissenschaftler (ohne dass dies immer angegeben war) und popularisierten sie.

Laut Hildegart Rodríguez könne nur die freie Liebe Männern wie Frauen ein erfülltes Liebesleben ermöglichen. Prostitution, Ehebruch und „Eifersuchtsdramen“ würden von selbst verschwinden, wenn alle Menschen ihre Bedürfnisse frei und freiwillig befriedigen könnten, war sie überzeugt. Homosexualität hielt Hildegart Rodríguez allerdings für krankhaft und gesellschaftsschädigend.

Aber auch wenn Hildegart Rodríguez die freie Liebe für Männer wie Frauen gleichermaßen einforderte, legte sie in ihren Schriften eine erstaunliche Misogynie an den Tag. Wiederholt verwendete sie distanzierend-herablassende Begriffe wie „mujercita” oder „muchachita”, die gleichbedeutend etwa mit „diese Fräulein“ sind. Gleichzeitig schrieb sie sich in einen Diskurs ein, der die Mutterschaft als die eigentliche Aufgabe von Frauen definierte. „Mutter“ war für Hildegart Rodríguez ein „glorreicher“ Titel, den Frauen sich erwerben mussten. Bildung etwa verstand sie nicht primär als Recht von Frauen, sondern als ein „Gut“, das Frauen an ihre Kinder weitergeben müssten. Frauen sollten innerhalb des von Hildegart Rodríguez propagierten patriarchalen Diskurses „die Nation“ sowohl physisch als auch ideologisch reproduzieren. Zudem, so Hildegart Rodrígeuz, kam Frauen eine besondere Verantwortung zu. Denn keine Frau habe das Recht, die Gesellschaft mit „Degenerierten, Kranken und Verrückten” zu belasten.

Der britische Sexualforscher Havelock Ellis (1859–1939) machte Hildegart Rodríguez weit über die Grenzen Spaniens hinaus bekannt, indem er ihr den Beinamen „die Rote Jungfrau“ gab. Die Bezeichnung fasst all die Merkmale zusammen, die in der Öffentlichkeit als charakteristisch für Hildegart Rodríguez galten: ihr „zartes“ Alter, ihre politische Überzeugung und ihre eigene sexuelle Unschuld. Hildegart Rodríguez stellte zwar in der Öffentlichkeit radikale Forderungen nach freier weiblicher Sexualität, lebte jedoch gleichzeitig Keuschheit und Gehorsamkeit vor – wenn auch vornehmlich ihrer eigenen Mutter und nicht einem Mann gegenüber.

Hildegart Rodríguez wurde am 9. Juni 1933 im Alter von achtzehn Jahren von ihrer Mutter im Schlaf erschossen. Aurora Rodríguez Carballeira, Hildegart Rodríguez’ Mutter, wurde nach dem Mord an ihrer Tochter inhaftiert, sie beendete ihr Leben 1955 in einer psychiatrischen Anstalt.

Weiterführende Literatur (Auswahl)

Sexus. Liga española para la reforma sexual sobre bases científicas (1932). Madrid.

Sinclair, Alison (2003): The World League for Sexual Reform in Spain: Founding, Infighting, and the Role of Hildegart Rodríguez. In: Journal of the History of Sexuality (Jg. 12), Nr. 1, S. 98-109.

Sinclair, Alison (2007): Sex and Society in Early Twentieth-Century Spain. Hildegart Rodríguez and the World League for Sexual Reform. Cardiff: University of Wales Press.

Tarnowsky, Benjamín (1932): Perversiones sexuales. El instinto sexual y sus manifestaciones mórbidas. Traducción, introduccioón y láminas de la señorita Hildegart; Epílogo del doctor Havelock Ellis. Valencia: Biblioteca Cuadernos de Cultura.

Wittenzellner, Jana (2017): Zur Gleichberechtigung durch Misogynie? Widersprüchliche Positionierungen der Sexualreformerin Hildegart Rodríguez. In: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 57, S. 30-37.

Wittenzellner, Jana (2017): Zwischen Aufklärung und Propaganda. Strategische Wissenspopularisierung im Werk der spanischen Sexualreformerin Hildegart Rodríguez (1914–1933). Bielefeld: transcript Verlag.