Der 1953er Kongress des International Committee for Sexual Equality (ICSE)


Vom 12. bis zum 14. September 1953 fand auf Einladung des niederländischen COC (Cultuur- en Ontspanningscentrum, dt. „Kultur- und Freizeitzentrum“, 1946–1966) in Amsterdam der dritte internationale Kongress des International Committee for Sexual Equality (ICSE) statt. Dessen Thema „Geistige Volksgesundheit und sexuelle Gleichberechtigung“ wurde von sechs Rednern aus verschiedenen Ländern der Welt beleuchtet. Ursprünglich sollte der Kongress – wie schon der Frankfurter ICSE-Kongress des Vorjahres – in Kopenhagen abgehalten werden, musste aber wegen der Absage der dänischen Partnerorganisation F-48 (Forbundet af 1948, dt. „Der Verband von 1948“) in die Niederlande verlegt werden.
Der dreitägige Kongress war in den Augen der Veranstalter überraschend gut besucht. Der angemietete Saal des Amsterdamer Parkhotels in der Stadhouderskade 25, in dem 230 Personen gleichzeitig Platz finden konnten, erwies sich immer wieder als zu klein. Unter den Anwesenden waren Amerikaner, Belgier, Dänen, Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener, Norweger, Schweden, Schweizer und – wie der mehrsprachige ICSE-Newsletter stolz betonte – zwei Syrer sowie ein Portugiese. Erfreut gab man sich ferner über die Teilnahme von protestantischer, katholischer und humanistischer Seite, aber auch von namhaften Psychiatern sowie von Vertretern etwa des Niederländischen Vereins für Sexualreform (Nederlandse Vereniging voor Seksuele Hervorming, NVSH) oder gar der Heilsarmee. Lediglich die Presse war, wie der ICSE-Präsident „Floris van Mechelen“ in seinem Kongressbericht enttäuscht festhielt, „kaum vertreten“: Die niederländischen Tageszeitungen fügten sich nach wie vor in eine „sexualverneinende Tradition“.
An den drei Kongresstagen fanden zwischenzeitig auch allgemeine Arbeitssitzungen des 1951 gegründeten ICSE statt, in denen es unter anderem um die Statuten und die Finanzen des Komitees, die Wahl zum Vorstand sowie den ICSE-Newsletter ging. Die beiden deutschen, auf dem Kongress vertretenen „homophilen“ Vereinigungen IFLO (Internationale Freundschaftsloge, Bremen) und VhL (Verein für humanitäre Lebensgestaltung, Frankfurt/Main) beschlossen in einer solchen Arbeitssitzung, angesichts der schwierigen politischen Lage in der Bundesrepublik ihre Ressourcen fortan zu bündeln und zusammenzugehen.
Eine Fotoserie in der Sammlung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
Anlass der nachfolgenden Präsentation ist der Umstand, dass die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft Ende 2024 zwanzig Schwarz-weiß-Fotos geschenkt bekam, die abgesehen von einer Nummerierung auf der Rückseite nicht beschriftet waren. Recherchen zum Kontext führten rasch zu der Vermutung, dass sie vom 1953er Kongress des ICSE stammen mussten. Bestätigt wurde dies, als einzelne der Fotos in einem historischen niederländischen Zeitschriftenbericht zum Kongress wieder auftauchten, auch hier ohne die Angabe, wer sie gemacht hatte und wem sie damals zugänglich gemacht wurden. Die zwanzig Fotos, die sich heute in der Sammlung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft befinden, stammen aus dem Besitz von Friedrich Rickel (1914–2008), der Anfang und Mitte der 1950er Jahre Vorsitzender der Bremer IFLO war und offenbar den Amsterdamer Kongress besucht hatte.
In der Folge veröffentlichen wir die zwanzig Fotos mit jeweils kurzen biografischen Angaben zu den abgebildeten Personen, die wir identifizieren konnten – in der Hoffnung, dass so weitere Erkenntnisse zu den Redner*innen und Teilnehmer*innen des Kongresses und ihrem Wirken zusammengetragen werden können. Wer Auskünfte zu den nicht ermittelten Personen geben kann oder Ergänzendes zu dem bereits Dargestellten weiß, ist herzlich eingeladen, sich bei der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft zu melden.
Anmerkung zur Zählung: Etwas unklar ist, nach welchem Prinzip die Fotos auf der Rückseite nummeriert wurden. Es fehlen eine Reihe von Zahlen in der Serie 1–34, außerdem spiegeln die vorhandenen Fotos in der nummerierten Reihenfolge nicht die Chronologie der Vorträge des Kongresses wider. Auch für Hinweise auf den Verbleib der fehlenden Fotos, die möglicherweise in anderen Archiven oder in Privatsammlungen erhalten sind, wäre die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft sehr dankbar!
Fotografische Impressionen vom 1953er Kongress des ICSE
Verbindungslinien zur ersten deutschen Homosexuellenbewegung
Mindestens zwei der Teilnehmer am 1953er Kongress des ICSE, die Sexualwissenschaftler Hendrik Cornelius Rogge (1877–1953) aus Kairo (Ägypten) und Arthur Weil (1887–1969) aus Chicago (USA), hatten sich einst auch im Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) engagiert und kannten Magnus Hirschfeld noch persönlich. Auch Hans Weil konnte auf Erfahrungen mit der ersten Homosexuellenbewegung der Welt aus seiner Zeit in Berlin zurückblicken. Er war 1924 Mitglied in der von Adolf Brand (1874–1945) geleiteten Gemeinschaft der Eigenen (GdE) geworden. „Rolf“ aus der Schweiz hatte in den 1920er Jahren ebenfalls Adolf Brand persönlich kennen gelernt und einige Artikel in dessen Zeitschrift Der Eigene veröffentlicht.
Der niederländische Psychiater Henderik Catharinus Valkema Blouw (1883–1953), der noch Ende der 1920er Jahre kurzzeitig am Berliner Institut für Sexualwissenschaft gearbeitet hatte, verstarb am 15. September 1953, einen Tag nach dem ICSE-Kongress. An diesem hatte er aber aus gesundheitlichen Gründen schon nicht mehr teilgenommen. Der deutsch-dänische Psychologe Ewald Bohm (1903–1980), der 1930 zusammen mit Magnus Hirschfeld das Buch Sexualerziehung herausgegeben hatte und nachweislich ab Januar 1954 in Kontakt mit dem ICSE stand, besuchte wohl erst 1955 den Pariser Kongress des Komitees.
Weiterführende Literatur
Edelberg, Peter (2024): From Criminal Radicalism to Gay and Lesbian Lobbyism. A Transnational Approach to the Scandinavian Homophile Movement, 1948–1971, in: Scandinavian Journal of History (Jg. 49), Nr. 4, S. 513-536; online hier.
Gyburg-Hall [sic!], Larion [d.i. Werner Schmitz] (1953): Bindet den Helm fester! Bericht über den 3. Internationalen Kongreß für sexuelle Gleichberechtigung vom 12.–14. September 1953 zu Amsterdam, in: Der Weg zu Freundschaft und Toleranz (Jg. 3), Nr. 10 (Oktober 1953), S. 4-7.
Hector [d.i. Dermot Mack] (1986): International Committee for Sexual Equality og 1950-årene, in: Løvetann, Nr. 1, S. 30-31, und Nr. 2, S. 2.
Mechelen, Floris van [d.i. Henri Methorst] (1953): Derde internationale congres voor sexuele rechtsgelijkheid. Gastvrouw: de Nederlandse vereniging C.O.C., in: Vriendschap (Jg. 8), Nr. 10 (Oktober 1953), S. 2-4.
Mechelen, Floris van [d.i. Henri Methorst] (1953): Dritter internationaler Kongress für sexuelle Gleichberechtigung, in: ICSE-Newsletter [Nr. 4: Congress Issue, Kongresznummer, Numéro du congrès], (Oktober 1953), S. 126-130.
Meininger, Heinz (1953): Zu den Kongressen 1952–53 Frankfurt – Amsterdam. Wissen Sie, was ein Kongress kostet?, in: Die Gefährten (Jg. 2), Nr. 8, S. 20.
Rolf [d.i. Karl Meier] (1953): Gedanken zum Internationalen Kongress in Amsterdam. 12.–14. September 1953, in: Der Kreis (Jg. 21), Nr. 10 (Oktober 1953), S. 2-4.
Romane, André [d.i. André Baudry] (1953): Le Congrès d’Amsterdam, in: Der Kreis (Jg. 21), Nr. 10 (Oktober 1953), S. 24-27.
Rupp, Leila J. (2011): The Persistence of Transnational Organizing. The Case of the Homophile Movement, in: The American Historical Review (Jg. 116), Nr. 4, S. 1014-1039.
Warmerdam, Hans und Pieter Koenders (1987): Cultuur en Ontspanning. Het COC 1946–1966. Utrecht: Interfacultaire Werkgroep Homostudies.
Weil, Hans (1953): Stockholm schreibt, in: ICSE-Newsletter (November/Dezember 1953), S. 166-168.
Wolfert, Raimund (2011): Mehr als tanzen, tunten, schwuchteln, sich bewundern lassen. Die Internationale Freundschaftsloge (IFLO) im Kampf gegen ein „törichtes“ Gesetz, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 48, S. 29-52.
Wolfert, Raimund (2012): Zur Geschichte der Internationalen Freundschaftsloge (IFLO). Ein Nachtrag, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, Nr. 49, S. 38-51.
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Ein Dokumentationsprojekt der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft
(work in progress)
Berlin, Januar 2025; letzter Stand: 20. Februar 2025
Beteiligte Mitarbeiter_innen: Raimund Wolfert
Das abgebildete Plakat zum 1953er ICSE-Kongress befindet sich im Original im Skeivt Arkiv in Bergen, Norwegen.