Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft

Helene Stöcker, Dr. phil., Publizistin

geb. 13.11.1869 (Elberfeld) gest. 24.2.1943 (New York, USA)

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Helene Stöcker. Aus Magnus Hirschfeld: Geschlechtskunde, 1926.
Helene Hulda Caroline Emilie Stöcker wuchs in Elberfeld (heute ein Stadtteil von Wuppertal) als älteste Tochter eines Textilwarenfabrikanten und dessen Frau auf. Erst im Alter von etwa 22 Jahren erhielt sie von ihren Eltern die Erlaubnis, in Berlin eine Ausbildung zur Lehrerin zu absolvieren. Als 1896 Frauen erstmals als Gasthörerinnen an preußischen Universitäten zugelassen wurden, gehörte sie zu den ersten vierzig Studentinnen der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. In der Folge studierte sie Literaturgeschichte, Philosophie und Nationalökonomie in Berlin, Glasgow und Bern. Nach ihrer Promotion in der Schweiz kehrte sie nach Berlin zurück und wurde zunächst als Dozentin an der privaten Lessing-Hochschule tätig. Später machte sie sich als freie Publizistin durch Vorträge, Lesungen und zahlreiche Veröffentlichungen einen vielbeachteten Namen.

Helene Stöcker setzte sich für ein demokratisches Frauenwahlrecht, die rechtliche, soziale und ethische Gleichstellung lediger Mütter und ihrer Kinder, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und das Recht der Frau auf Empfängnisverhütung ein. Sie vertrat ihre Positionen unter anderem im Bund für Mutterschutz (BfM, ab 1908 Bund für Mutterschutz und Sexualreform) und in der Zeitschrift Die Neue Generation, die von 1908 bis 1933 unter ihrer Schriftleitung erschien. Privat lebte sie ab 1905 mit ihrem Lebensgefährten, dem jüdischen Rechtsanwalt Bruno Springer (?–1931), in einer „modernen” Lebensgemeinschaft zusammen, die kinderlos blieb. Als Springer starb, war er 57 Jahre alt, er dürfte mithin um 1874 geboren sein. Bruno Springer stammte aus Ostrowo (heute Ostrów Wielkopolski, Polen).

Mit Magnus Hirschfeld und dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) kam Helene Stöcker 1909 in Kontakt, und 1912 trat sie der Vereinigung auch offiziell bei. Im selben Jahr wurde sie in das Obmännerkollegium des WhK gewählt. Aber bereits am 10. Februar 1911 veranstaltete der Bund für Mutterschutz unter dem Vorsitz von Helene Stöcker in Berlin einen Vortragsabend gegen die damals geplante und im Gespräch befindliche Ausdehnung des § 175 RStGB auf die Frauen. Anwesend war neben Magnus Hirschfeld auch der Arzt und spätere Erste Vorsitzende des WhK Heinrich Stabel.

Helene Stöcker war Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Sie war unter anderem Mitbegründerin der Internationale der Kriegsdienstgegner im niederländischen Bilthoven, Vorstandsmitglied in der Deutschen Liga für Menschenrechte und schloss sich später der Gruppe Revolutionärer Pazifisten Kurt Hillers an. 1929 nahm sie am zweiten Internationalen Kongress für Sexualreform in Kopenhagen teil.

Stöcker kam eine große integrative Kraft zu. Kurt Hiller schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg an die befreundete lesbische Berliner Journalistin Eva Siewert (1907–1994): „Die hysterische Tribade mit Männerfeindschaft war fin-de-siècle ein verhältnismäßig verbreiteter Typus, welcher sogar, wegen seiner Komik, einige Popularität genoss, aber doch bereits um 1910, sicher 1920 überwunden war, nicht ohne Hilfe erfreulicher Frauengestalten wie Helene Stöcker, Else Lasker-Schüler oder Renée Sintenis. In den Kreisen des Kartells für Reform des Sexualstrafrechts galt es einfach als schlechter Ton, die Propaganda der Freiheit für androtrope Männer mit Antifeminismus zu verbinden oder die feministische Propaganda mit Feindseligkeiten gegen den Mann.”

1932 begann Helene Stöcker mit der Niederschrift ihrer Memoiren, konnte sie aber unter den herrschenden Umständen bis an ihr Lebensende nicht abschließen. Nach der „Machtübernahme” der Nationalsozialisten verließ sie Deutschland im Frühjahr 1933 und ging ins Exil zunächst nach Zürich. Ende 1938 zog sie von hier weiter nach London. Die Nationalsozialisten hatten sie inzwischen ihrer Staatsbürgerschaft, ihres in Deutschland verbliebenen Vermögens und etlicher Kisten mit wichtigen Manuskripten beraubt. Von Schweden aus bemühte sich Helene Stöcker ab 1939 um die Einreise in die USA, die sie nach einer langen und beschwerlichen Reise über Moskau, Wladiwostok und Japan 1941 schließlich erreichte.

Helene Stöcker starb am 24. Februar 1943 in New York an einem Krebsleiden. Ihre unvollendete Autobiographie konnten Reinhold Lütgemeier-Davin und Kerstin Wolff erst 2015 herausgeben. Unklar ist vor diesem Hintergrund, warum Helene Stöcker in ihren Lebenserinnerungen ihre langjährige Zusammenarbeit mit Magnus Hirschfeld so gut wie unerwähnt ließ. So hielt sie in Hinblick auf Hirschfeld lediglich fest: „So mannigfache Bedenken man gegen seine Persönlichkeit und gegen seinen Charakter haben mag, so bleibt doch das Verdienst in seinem Kampf gegen die Härten einer Gesetzgebung gegenüber den Homosexuellen unbestritten.“

Schriften (Auswahl)

Stöcker, Helene (1908): Das Recht über sich selbst [Besprechung zu Kurt Hiller: Das Recht über sich selbst]. In: Die neue Generation (Jg. 4), Nr. 7, S. 270-273.

Stöcker, Helene (1919): Die Revolution des Herzens. In: Kurt Hiller (Hg.): Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik (Das Ziel, 3). München: Kurt Wolff Verlag, S. 16-21.

Stöcker, Helene (1924): Erotik und Altruismus. Leipzig: E. Oldenburg.

Stöcker, Helene (1925): Liebe. Roman. Berlin: Verlag der Neuen Generation.

Stöcker, Helene (1929): Kameradschaftsehe und Sexualreform. In: Hertha Riese und J. H. Leunbach (Hrsg.): Sexual Reform Congress. W.L.S.R. World League for Sexual Reform. Proceedings of the Second Congress. Copenhagen, 1–5 July 1928. Kopenhagen, Leipzig: Levin & Munksgaard, Georg Thieme Verlag, S. 100-106.

Stöcker, Helene (2015): Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin (L’homme Archiv, 5). Hrsg. von Reinhold Lütgemeier-Davin, Kerstin Wolff, Stiftung Archiv der Deutschen Frauenbewegung, Kassel. Köln: Böhlau.

Weiterführende Literatur

Kokula, Ilse (1985): Helene Stöcker (1869–1943), der „Bund für Mutterschutz” und die Sexualreformbewegung, mit besonderer Berücksichtigung des Emanzipationskampfes homosexueller Frauen und Männer, in: Mitteilungen der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (6), S. 5-24.

Wickert, Christl (1991): Helene Stöcker 1869–1943. Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin. Eine Biographie. Bonn: Dietz.

Wickert, Christl (2009): Helene Stöcker (1869–1943), in: Sigusch, Volkmar und Günter Grau (Hrsg.): Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt/New York: Campus, S. 672-678.

Zeitleiste zum Lebensweg Helene Stöckers auf Lebendiges Museum Online.